Zeitzeugengespräch am 07.02.2020
Unfreiwillig in der Napola
Am 7. Februar 2020 findet an der Eichendorffschule das jährliche Zeitzeugengespräch der Jahrgangsstufe Q3 statt.
Obwohl die uns ursprünglich angekündigten Zeitzeugen krankheitsbedingt nicht erscheinen können, sind zwei Vertreter mit höchst interessanten Lebensläufen im Rahmen des Dritten Reichs zu Gast. Einer von ihnen ist Herr Gerhard Herbert, Jahrgang 1931.
Seine Familie stammt ursprünglich aus Frankfurt. Der Vater war hochrangiger SS-Offizier und maßgeblich am Massenmord an den europäischen Juden beteiligt. Er war bereits 1926 in die NSDAP eingetreten und galt seit 1945 langjährig als vermisst. Herr Gerhard Herbert verbrachte einen Teil seiner Jugend auf einer nationalsozialistischen Kaderschule, der „Napola“ (Nationalpolitische Lehranstalt).
Der bereits 88 Jahre alte Herr Herbert tritt unauffällig ein. Er hat volles, weißes Haar und trägt ein graumeliertes Sakko. Trotz seines Gehstocks ist ihm eine gewisse Haltung zu eigen. Mit wachem Blick erfasst er kurz sein Publikum und beginnt ohne Umschweife mit sanfter Stimme zu erzählen.
Sich selbst stellt er von Anfang an klar als ein „Täterkind“ dar und betont damit deutlich den Unterschied zu den Zeitzeugen, die Opfer der Diktatur waren. Nach einer kurzen Bitte um Verständnis für mögliche Gedächtnislücken stellt er nüchtern fest, dass man sich die Familie schließlich nicht aussuchen könne. Einen passenderen Auftakt für seine Geschichte kann es kaum geben.
Zuerst möchte Herr Herbert über seine Zeit in der Kaderschule sprechen. Dazu hält er eine DinA4-Seite mit kleinen Fotos von sich selbst als Kind ins Publikum, darunter auch eines, das ihn in Uniform zeigt. Erstaunlicherweise berichtet er nicht, wie zu erwarten, von militärischen Ritualen, sondern davon, dass ihnen die Lehrerin die Geschichten von Tom Sawyer vorlas und man heimlich unter der Bettdecke im Radio der BBC lauschte. Trotz dieser Erinnerungen kann Herr Herbert nicht genug betonen, wie schlimm die Zeit auf der Schule für ihn war. Besonders die sportlichen Anforderungen und das Unwissen über die Beweggründe für seine Anwesenheit dort machten ihm zu schaffen. Als Einblick in den NS-Staat berichtet er in teilweise selbstironischem Ton von seiner versehentlichen, geringfügigen Beschädigung eines Gewehrs, auf die eine Vorladung beim Schulleiter folgte, die jedoch wegen der Position seines Vaters keine Konsequenzen nach sich zog. Eine ähnliche Geschichte erzählt er von einem Mitschüler in einer weiteren von ihm besuchten NS-Schule: Auf den angeblich zu riskanten Transport eines Stapels Tassen in der Kantine folgten schwerste Vorwürfe. Der Schüler beantwortete diese mit einem Schlag ins Gesicht der Lehrkraft. Der Schuldirektor persönlich habe ihm seine Rangabzeichen von den Schulterklappen gerissen und somit unehrenhaft entlassen. Dies ereignete sich wenige Monate vor der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945.
Nun spricht Herr Herbert über seinen Vater, von dem er einige Bilder in Uniform zeigt. Der gelernte Friseur war seinerzeit arbeitslos und begann nach der Machtergreifung eine steile Karriere in der SS. Bedingt durch häufige Wechsel seiner Tätigkeit entsinnt sich Herr Herbert zahlreicher Umzüge der Familie. Auf mehrere Tätigkeiten, darunter auch die Position des Polizeidirektors in Mainz, folgte im Rahmen des Kriegsdienstes auch eine Versetzung ins polnische Lublin. Was er dort tat, sollte sich erst später herausstellen.
Nach 1945 blieb sein Vater vermisst. Tatsächlich war dieser jedoch durch eine alte NS-Bekanntschaft einer Verurteilung wegen eines dienstlichen Auftragsmordes entgangen und lebte, wie Herr Herbert nach akribischer Suche herausfand, in München. 1955 besuchte er ihn sogar dort - eine Begegnung, die der Sohn als furchtbar schildert. Ein Jahr später heiratete der Vater wieder und gründete eine neue Familie. Erst 2008 erlangte Herr Herbert Gewissheit um die schreckliche Wahrheit über seinen Vater: Nach der Sichtung mehrerer Fotos, die sich bisher unter Verschluss der Mutter befunden hatten, und dem Fund des Einberufungsbescheids des Vaters im Stasi-Archiv stellte er mit großem Erschrecken fest, dass dieser in leitender Position in mehreren Konzentrationslagern tätig gewesen war (Aktion Reinhardt).
Dieses Vermächtnis begann Herr Herbert erst nach der Behandlung in einer psychiatrischen Klinik zu verarbeiten - ein Prozess, der bis heute auch im Rahmen der Zeitzeugengespräche andauert. Die Belastung ist ihm noch deutlich anzumerken und mündet schließlich in einen flammenden Appell an uns, stets wachsam und kritisch zu bleiben - auch wenn sich die Zeiten und Methoden verändert haben.
(Marcel al Nakash, Q4)