Eindrücke aus einer dunklen Zeit: Zeitzeugengespräche an der Eichendorff-Schule

logo_presse_hk vom 26.02.2019

Regelmäßig lädt die Eichendorffschule Zeitzeugen ein, um mehr aus den schwarzen Jahren deutscher Geschichte zu erfahren.

Fallt nicht auf die Rattenfänger rein. Und sorgt dafür, dass sich so etwas nicht wiederholt.“ Gerhard Wiese richtet nach spannenden 90 Minuten klare Worte an die Oberstufen-Schüler der Eichendorffschule. Der heute 90-Jährige hat die NS-Zeit und ihre Folgen in verschiedenen Facetten erlebt. Und gibt diese Erfahrungen in Zeitzeugengesprächen weiter. So war Wiese zuletzt gemeinsam mit Inge Geiler zu Gast an der EDS.

Zeitzeugen beleuchten unterschiedliche Aspekte der dunklen Jahre

Eine Aufarbeitung dieser Zeit sei wichtig, betont Lehrer Roland Struwe. Und deshalb füllt die Einrichtung das Thema Nationalsozialismus durch die regelmäßigen, besonderen Gäste mit Leben. Gemeinsam mit der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt haben die beiden Zeitzeugen Wiese und Geiler ganz unterschiedliche Aspekte der dunklen Jahre beleuchtet. Ein Buch nach dem Fund

Die Geschichte einer jüdischen Familie

Inge Geiler entdeckte bei Renovierungsarbeiten in ihrem Haus im Frankfurter Westend unter der Heizung Dokumente der jüdischen Familie Grünbaum. Sie beginnt zu forschen. Das Ergebnis ist ein Buch der Familiengeschichte mit dem Titel „Wie ein Schatten sind unsere Tage“. Meier und Elise Grünbaum, aus Wiesbaden kommend, waren in ein jüdisches Altersheim nach Frankfurt gezogen. 

Von dort aus mietetensie ein Zimmer in der jüdischen Pension Nussbaum, wo sie bis zur Deportation nach Theresienstadt lebten. Inge Geiler recherchierte auf Standes- und Einwohnermeldeämtern, suchte in Geburts- und Sterberegistern und setzte das Bild einer großen Familie zusammen – von ihren Ursprüngen in Geisa und Forchheim bis in die USA, wo Nachkommen heute leben. All das erzählte sie auch an der EDS und mahnte ebenso wie Wiese, sich dieser Vergangenheit zu erinnern und Lehren zu ziehen.

Gerhard Wieses Geschiche: Vom Krieg zum Ausschwitz-Prozess

Auch der Nebenraum platzte aus allen Nähten – denn Gerhard Wieses Geschichte könnte es mit jedem Krimi aufnehmen. 1928 in Berlin geboren, wurde er mit 15 mit seiner Klasse als Luftwaffenhelfer eingezogen. Zwei von vier Geschützen kamen in den Osten, Wiese blieb und sollte die Stadt gegen die Russen verteidigen. Das gelang dem „ungeordneten Haufen“ (Wiese) natürlich nicht. Der junge Mann kam in Fürstenwalde in Gefangenschaft. Weil die Russen aber die Kaserne benötigten, wurde er schon bald wieder freigelassen.

Allerdings war er an Tuberkulose erkrankt. So wurde aus seinem Berufswunsch Apotheker nichts. Weil der Onkel eines Freundes Anwalt war, studierte er mit dem Kumpel Jura. Doch die Juristenschwämme in Berlin führte ihn zwangsweise nach Frankfurt, von dort folgten Abstecher nach Fulda, Hanau, Offenbach. 1961 war Wiese bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt „am Ziel“. 

Nicht ganz: Seine Lebensaufgabe sollte noch folgen. Der bekannte Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hatte es geschafft, die Auschwitz-Prozesse nach Frankfurt zu holen. Und Wiese war als einer der Staatsanwälte mittendrin im größten Prozess der Nachkriegsgeschichte mit 22 Angeklagten und 18 Monaten Dauer. Die Anklageschrift habe 70 Bände umfasst, für jeden Beschuldigten ein Sonderheft. Das sei schon technisch sehr aufwendig gewesen, so Wiese. Ende 1963 sollte es losgehen, doch der größte Saal im Gericht war zu klein. Das Bürgerhaus Gallus wurde auserkoren, allerdings war es noch im Umbau. Deshalb zog der Prozess kurzzeitig in den Frankfurter Römer um.

Die Geschichte der KZ-Gefangenen

Die Beweisaufnahme gestaltete sich schwierig. „Die Angeklagten konnten nicht leugnen, dass sie in Auschwitz waren. Aber sie hatten nie etwas Böses getan“, erinnert sich Wiese an deren Aussagen. Die Zeugen kamen unter anderem aus Israel, Polen, sogar Mexiko nach Frankfurt. Die Erinnerungen aus dem Konzentrationslager, in dem mehr als 1,1 Millionen Menschen ermordet wurden, sei für alle „eine sehr große Belastung“ gewesen. Einige bekamen Weinkrämpfe, die Verhandlungen mussten mehrmals unterbrochen werden, erzählte der Frankfurter an der EDS in Münster. 

Ein Schicksal stellte er besonders heraus: die Aussage eines Arztes aus Israel, der mit der Frau und den Zwillingen nach Auschwitz kam. Weil die Kinder nicht eineiig gewesen seien, hätten sie KZ-Arzt Mengele nicht als Versuchsobjekte gedient und seien mit der Mutter gleich vergast worden. Der Vater musste als Arzt im Lager arbeiten und habe so manchem Mithäftling sehr geholfen, so Wiese.

Bewegender Ortstermin

Eine Odyssee war auch der Ortstermin des Prozesses direkt in Auschwitz. Als der „kalte Krieg“ brodelte, flog der Tross über Wien nach Polen – das Verfahren in Frankfurt durfte nur einmal für zehn Tage unterbrochen werden. Das klappte trotz einiger Unwägbarkeiten gerade noch. So wurde vor Ort unter anderem geprüft, ob Zeugen die Erschießungen haben sehen können, berichtete Wiese. Denn zum Teil seien die Gaskammern nicht nachgekommen, weshalb Tausende gleich erschossen und verbrannt worden seien, sagte Wiese im Klassenraum, in dem es 90 Minuten mucksmäuschenstill war.

Wiese erzählte noch, dass drei Angeklagten keine Schuld nachzuweisen war. 1965 wurden 17 zu lebenslangen oder langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Zwar verzichteten beide Seiten auf eine Revision, doch Gerhard Wiese begleitete sein berufliches Lebenswerk auch nach seiner Zeit als Staatsanwalt in Frankfurt noch. Er war als Zeitzeuge viel unterwegs. Der Film „Labyrinth des Schweigens“ über die Prozesse, der 2014 ins Kino kam, beruht auch auf seinen Erinnerungen. Ein Pressemann habe das mediale Interesse an seiner Person koordiniert. „Die kamen alle schön dosiert zu mir nach Hause.“ Auch bei Günther Jauch war er in der Sendung, der „nicht so viel Juristisches“, sondern mehr die Emotionen von ihm habe hören wollen. Genau das erlebten jetzt auch die Eichendorffschüler in beeindruckender Weise von zwei Zeitzeugen, die neues Licht in ein schwarzes deutsches Kapitel brachten.

(Frank Weiner)